Unsere Familie und St. Matthäi (Hermann Benn)
Unsere Familie ist 1890 nach Lübeck gezogen, damals gaben meine Großeltern den Bauernhof in Mannhagen auf, den seit dem 30-jährigen Krieg sechs Generationen bewirtschaftet hatten. Das Dorf gehörte damals als Enklave zu Mecklenburg-Strelitz und zur Kirchengemeinde Nusse. In der dortigen Kirche war mein Vater noch am 30.3.1890 konfirmiert worden. In Nusse hatte er auch eine Privatschule besucht, die etwa einer Realschule entsprach. Später schreibt mein Vater: "Blutenden Herzens verließ ich die alte Heimat, und Lübeck wurde meine zweite Heimat. Dadurch bin ich mit St. Matthäi aufs engste verbunden gewesen."
Ausflug des Kindergottesdienstes 1913
Die Großeltern zogen mit ihren vier Kindern (mein Vater war das dritte) in die Schwartauer Allee 90. Die neue Wohnung lag damals am Rande der St. Lorenz-Gemeinde, kurz vor der Karlstraße. Der Flutgraben war die Grenze. Wilhelmshöhe, Trems, Vorwerk und die Teerhofinsel gehörten bis 1899 noch zur Kirchengemeinde Rensefeld. Noch in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg hatten einige alteingesessene Familien ihre Erbgräber in Rensefeld.
Unsere Familie kam nach Lübeck, als in St. Lorenz-Nord die große Bautätigkeit einsetzte und in den Jahren fast alle Nebenstraßen der Schwartauer Allee entstanden. Mein Vater hat also die Entstehung der St. Matthäi-Gemeinde von Anfang an miterlebt und hat bis zu seinem Tod 1962 fast nur in der Schwartauer Allee gelebt. Nur im ersten Jahr der Ehe wohnten die Eltern in der Brockesstraße 7, wo ich auch geboren wurde. Als ich fünf Wochen alt war, zogen wir in die Schwartauer Allee 74a.
Die neuen Bewohner des Neubaugebietes kamen entweder aus der Innenstadt, vor allem aber - wie unsere Familie - aus Mecklenburg und Lauenburg vom Lande. Aber auch von weiterher fanden Menschen Arbeit in den neuen Industrieanlagen: Lübecker Maschinenbau (LMG), Holzlager in der Einsiedelstraße Thiel und Söhne, Schlachthof, Lakritzenfabrik Wengenroth, Talgschmelze, u.a. Hinzu kamen auch Menschen, die im Hafen und beim Zoll beschäftigt waren.
Aus diesem schnellen Bevölkerungszuwachs entstand für die Kirche die seelsorgerliche Verpflichtung zur Gründung einer neuen Gemeinde. Nachdem 1668 St. Lorenz von St. Petri abgezweigt war, war dies ein besonderes Ereignis. "In der St. Lorenz-Vorstadt gelang es besonders gut, in den durch sozialen Umbruch gekennzeichneten Neubaugebieten der allgemeinen Entkirchlichung entgegenzuwirken" (Hauschildt, Kirchengeschichte Lübecks, S. 482).
Zur Entstehung der neuen Straßen
1869: Lohmühle
1871: Einsiedelstraße, Elisenstraße
1874: Reiferstraße (200), Waisenhofstraße (100)
1891: Friedenstraße (250), Ludwigstraße (230)
1894: Adlerstraße (100)
1897: Wickedestraße (160)
1898: Brolingstraße (50), Brockesstraße (140)
1899: Gloxinstraße (130), Stitenstraße (55), Kerckringstraße
1900: Westhoffstraße (190)
1901: Glandorpstraße (70), Geverdesstraße
Danach sind in drei Jahrzehnten ca. 2000 Neubauten entstanden. Hinzugerechnet werden müssen die bestehenden und neuerrichteten Häuser der Schwartauer Allee, der Katharinenstraße und auch der 1899 eingemeindete Nordteil. Klöcking rechnet 1903 mit mindestens 7000 Wohnungen.
Die Entstehung der Gemeinde
Daten:
10.12.1895: Beschluß der Synode zur Gründung
3.5.1896: Verkündigung des Beschlusses
28.9.1896: Wahl Pastor Haensels mit 11 von 15 Stimmen
10.10.1896: Erste Sitzung des neuen Vorstandes
25.10.1896: Einführung Pastor Haensels in der St. Lorenz- Kirche
1. Advent 1896: Erster Gottesdienst in der Turnhalle
Die Wahl von Pastor Haensel ist für die Entwicklung der Gemeinde in den nächsten Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung gewesen.
Obwohl Pastor Haensel das Recht gehabt hätte, in der St. Lorenz-Kirche im Wechsel zu predigen, zog er es vor, jeden Sonntag in der Turnhalle der 3. St. Lorenz-Schule Gottesdienst zu halten. Dazu wurden 150 Stühle, Altar, Pult und Harmonium angeschafft.
Von Anfang an sammelte er die Kinder, jeden Sonntag um 14.00 Uhr. Der Besuch war überwältigend durch alle kommenden Jahre hindurch. Amtshandlungen wie Taufen, Trauungen und Aussegnungen der Verstorbenen fanden weitgehend in den Wohnungen statt. Darüber erzählt sein Nachfolger Hans Brandenburg (in: Gott begegnete mir II, Seite 13ff). Zu solchen Anlässen ging der Pastor im Talar durch die Straßen.
Auf diese Weise verwirklichte sich kirchliches Leben, obwohl noch kein Gebäude dafür vorhanden war, dort, wo die Menschen wohnten. So erlebten Sie in ihrem Zuhause (das oft genug eng und bescheiden war), echte Gemeinde Jesu Christi.
Pastor Haensel muß eine besondere Gabe gehabt haben, Menschen anzusprechen durch sein natürliches Wesen, im besonderen aber durch seine zentrale Verkündigung. Kein Wunder, daß sich unter seiner Kanzel auch eine wachsende Personalgemeinde aus der ganzen Stadt versammelte.
Der zweite Bezirk
Das ständig weitere Wachsen der Gemeinde machte es 1903 - drei Jahre nach der Einweihung der Kirche - nötig, einen zweiten Pfarrbezirk einzurichten. Gewählt wurde Pastor Karl Arndt, 37 Jahre alt, der bis dahin im Schuldienst tätig gewesen war.
Damit begann ein Stück Gemeindegeschichte - nicht ohne innere und äußere Spannungen und Gegensätze. Das hatte mehrfache Gründe:
1) Der erste Bezirk umfaßte alle Straßen, die auf die Hauptachse Schwartauer Allee zuliefen. Man war von Zuhause in kurzer Zeit in der Kirche.
2) Der zweite Bezirk hatte am Neubaugebiet nur teilweise Anteil: Westhoff-, Brockes- und Drögestraße. Der ganze Nordteil jenseits des Flutgrabens lag weit entfernt vom Gemeindezentrum. Hinzu kam, daß erst 1908 das Pastorat Schwartauer Allee gebaut wurde.
3) Pastor Haensel hatte in den wenigen Jahren seines Amtes viel Vertrauen gewonnen, so daß viele - junge und alte - zu seinen Gottesdiensten und Veranstaltungen weiterhin gingen; eine ganze Reihe meldete sich offiziell in den ersten Bezirk um. Durch die Gemeinschaftsbewegung, die zur Gründung eines eingetragenen Vereins führte, entwickelte sich auch ein besonderer Stil von Gemeindearbeit.
4) Alfred Haensel und Karl Arndt - fast gleichaltrig - waren sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Vielleicht weniger in ihrer theologischen Einstellung, als in ihrer Amtsführung und im Kontakt mit ihren Gemeindegliedern, was sich natürlich am Besuch der Gottesdienste am deutlichsten zeigte. Im Nachhinein muß ich es bewundern, wie Pastor Arndt dies 30 Jahre lang durchgehalten hat.
Wir wohnten ja im zweiten Bezirk, ich bin von Pastor Arndt getauft und konfirmiert. Meine Eltern haben immer zu den Pastoren beider Bezirke gute Beziehungen gehabt.
Hier möchte ich zitieren, was Pastor Gerhard Fölsch - der Schwiegersohn von Pastor Haensel - in der Trauerfeier für Pastor Arndt am 21.5.1947 gesagt hat: "Durch drei Jahrzehnte hat Pastor Arndt mit Treue und fleißiger Bemühung, mit Geduld und Bescheidenheit das getragen, was ihm an Sorgen und Nöten, Enttäuschungen und Rückschlägen erwuchs. Geradezu rührend und überwältigend für die Gemeinde und noch mehr für uns Angehörige der Familie Haensel war es aber, mit welcher Bescheidenheit Arndt sich hinter der Persönlichkeit und den Verdiensten des Gründers der Gemeinde, Haensel, zurückstellte, dem wegen seiner überdurchschnittlichen Volkstümlichkeit fast alle Herzen zufielen."
Pastor Arndt hat mich Palmsonntag 1931 konfirmiert. Wir waren eine kleine Gruppe gegenüber der großen Zahl, die im ersten Bezirk eingesegnet wurden. Der Unterricht dauerte damals ein halbes Jahr. Vorausgesetzt wurde, daß jeder im Religionsunterricht der Schule den Kleinen Katechismus Luthers auswendig konnte. Aufbewahrt habe ich ein "Spruch-Buch", in das wir Bibelworte aufschreiben mußten.
Als Pastor Arndt 1934 in den Ruhestand ging, erbte ich von ihm eine Menge Bücher, von denen viele mich seitdem begleitet haben und noch heute in meinem Bücherbord stehen. Der Kontakt zu ihm blieb bis zu seinem Tode bestehen. Den letzten Brief hat er uns genau vor 50 Jahren zur Geburt unseres dritten Kindes geschrieben. Daß ich dann 1951 sein zweiter Nachfolger wurde, hat er nicht mehr erlebt. Sein Grußwort zur 50-Jahr-Feier am 1. Advent 1946 war wohl das letzte Mal, daß er zu seiner alten Gemeinde gesprochen hat. Darüber noch einmal Pastor Fölsch in seiner Trauerrede: "Besonders deutlich und mächtig konnte er zu uns reden. Seine rückschauende Rede zeigte, was ihm in seiner Amtsführung besonders am Herzen gelegen hatte."